Der Glaube der Zikade

von Talal Nayer

Meine Insektensammlung fällt als erstes ins Auge, wenn man meine Wohnung betritt. Teil dieser Sammlung ist ein besonderes Exemplar: eine 17 Jahre alte Zikade aus Thailand. Viele Menschen halten mich wegen der Insektensammlung für einen Biologen, aber: "Nein! Ich bin Schriftsteller und Künstler". Auf die Frage, "Was steckt hinter den Zikaden? Was ist das Geheimnis?", fehlt mir meistens eine knappe Antwort. Normalerweise zeige ich mein Interesse an Zikaden nicht, weil die meisten Leute nichts Interessantes daran finden, wenn ich von der Bedeutung der Zikade in der Folklore der Menschen auf den Fidschi-Inseln erzähle oder wie die Bermuda-Inseln auf ihren Münzen das Bild der Zikade sorgfältig ausgearbeitet haben.  


Wenn ich an die Zikade denke, kommt mir Vieles in den Kopf: Briefmarken, die mit diesem prächtigen Insekt verziert sind, eine lange Liste von Menschen, die sich von der Zikade inspirieren ließen, um Hunderte von Objekte zu entwerfen: Spielzeug, Kleidung und sogar Gebäude. Diese Aufzählung beantwortet jedoch nicht die Frage; lieber bringe ich die Zikade in einen philosophischen Kontext, in dem sich die Menschen wiederfinden: "Die Zikade ist für mich ein Symbol für meine Lebensvision; es geht um Hoffnung", so ist meine Antwort.

Meine Erfahrungen im Leben haben mir gezeigt, dass die Hoffnung die größte treibende Kraft in unserem Universum ist; zumindest aus meiner persönlichen Perspektive. Viele Menschen haben persönliche Hoffnungen: der Wunsch, etwas akademisch oder wissenschaftlich zu erreichen, der Traum, ein produktives Wirtschaftsunternehmen aufzubauen; auch die Sehnsucht, sich in jemanden zu verlieben, ist Hoffnung.

Als Atheist kann ich sehr wohl verstehen, warum die Menschen beten und warum sie nach Hoffnung suchen. Die meisten Menschen denken fälschlicherweise, Atheismus sei ein Synonym für den existentiellen Nihilismus. Diese Philosophie lässt sich in einer Zeile zusammenfassen: "Das Leben hat keinen in sich liegenden Sinn oder Wert". Ich kann die Bedeutung der Religion für den Menschen verstehen; ich kann es durchaus nachvollziehen, wenn jemand die Religion als eine spirituelle Orientierung im Leben betrachtet.

Viele Menschen blicken diese Orientierung suchend hoch zum Himmel, doch ich persönlich beuge meinen Kopf nach unten und denke. Ich nehme an, dass das Herz und der Verstand die stärksten Kräfte sind, im Leben zu leiten. Diese Lebensausrichtung kann wahrscheinlich religiös, politisch oder philosophisch sein. In meinen Augen ist nicht das Etikett ausschlaggebend, sondern dass sie existiert.  

In Momenten der Niederlage schaue ich nicht in den Himmel, sondern beuge meinen Kopf in Richtung Boden und denke; in finsteren Zeiten denke ich an die Zikade. Die 17-jährige Zikade verbringt ihre Lebenszeit unter der Erde. 17 Jahre lebt sie in der Dunkelheit, und nur einen Monat lang kommt sie ans Licht. In dieser Zeit fliegt sie dem strahlenden Himmel entgegen, isst unzählige köstliche Speisen, liebt leidenschaftlich und feiert die prächtige Natur. Die Zikade wartet in der Dunkelheit, und vertraut darauf, dass diese immerwährende Finsternis mit einem großen Fest endet.

Indem ich es lebe, glaube ich an das Positive und an das liebevolle Leben. Im August 2012 besuchte ich eine kleine Stadt namens Kom Ombo in Ägypten. Zu dieser Zeit, an diesem Ort hörte ich ein Lied von einem einheimischen Mauwal-Musiker namens Youseff Shita. Ein Vers, den ich vernahm, blieb mir im Gedächtnis; er lautet:

Iktum aljarh wa qawwey al-rubatt bi-a'shaash

Wa shuff bi-eayn al-rida wajah al-zamman bashash

Welcher grob übersetzt werden kann mit:

Bedecke die Wunde, festige das Band mit der Gaze,

Schau mit Zufriedenheit, und die Zeit zeigt ihre Phase. 

In dicker bunter Schrift schrieb ich diesen Vers auf ein Brett und vokalisierte die Schrift, um immer das Positive im Kopf und vor Augen zu behalten. Ich weiß, dass viele Menschen der Meinung sind, diese Über-Positivität sei Illusion, und ich kann ihren Gedankengang verstehen. Wir leben in einer Zeit, in der der Glaube an das Gute im Namen der Rationalität tabuisiert wird; die Verherrlichung der Gewalt lässt keinen Raum für irgendeinen Optimismus; die Befürworter des Hasses haben alle Plattformen besetzt. Trotz allem spricht mir leise meine innere Führung in mein Ohr: "Wenn du schon nicht singen kannst wie ein Spatz, dann schrei wenigstens nicht wie eine Eule".

Sie flüstert mir immerwährend zu: "Betrachte jede Herausforderung als Chance", denn ich glaube daran, dass dieser Optimismus mir hilft, vorwärts zu kommen; von der Möglichkeit zur Wirklichkeit zu gelangen. Selbst wenn die Ergebnisse nicht zufriedenstellend sind, lächle ich, denn bei dem, was ich im Leben tue, geht es nicht darum zu gewinnen, sondern darum, gute Entscheidungen zu treffen. Mit meiner Positivität versuche ich als Künstler und Schriftsteller ein Statement abzugeben und vor allem als Mensch sich auszudrücken. Wenn ich verletzt werde, erinnere ich mich an den Vers aus dem ägyptischen Lied; also bedecke ich die Wunde und schaue mit dem Auge der Zufriedenheit.


Ich glaube, dass jeder Mensch diesen Glauben haben sollte; den Glauben der Zikade, die erkennt, dass die Finsternis nicht ewig und das Warten auf das Licht nicht endlos ist. Vielleicht sind die Momente der Freude von kurzer Dauer, aber das ist der Sinn des Lebens: Es geht um die Qualität, nicht um die Länge der Zeit, die wir leben. Die Zikade lebt nur einen Monat und singt tagelang lauthals, dann stirbt sie. Dann nehmen der Wind und die Flüsse die Zikade mit auf eine Reise zu anderen Orten; eine Reise nach dem Tod, nachdem die Zikade ihre Erklärung klar und laut abgegeben hatte. Ich glaube an diese Theorie, und wenn Finsternis hereinbricht, weiß ich, dass das Licht kommen wird, und ich werde laut singen wie eine Zikade; ich singe für die aufkommende Hoffnung.